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Wie überschreitest du deine Grenzen?

Auf Reisen! Zeit für ein paar Gedanken über Grenzen. Grenzen begegnen uns überall, Ländergrenzen, Grenzen zwischen Land und Meer, kulturelle Grenzen, zwischenmenschliche Grenzen, mal ist mein Horizont begrenzt, mal der Körper. Kommunikation ist oft begrenzt: wenn das Gegenüber einfach nicht versteht, was man sagen will oder etwas ganz anderes ankommt. Gedanken sind begrenzt, wenn sie sich im Kreis drehen und es irgendwie nicht weiter geht. Möglichkeiten erscheinen oft begrenzt: Ich kann dies und jenes nicht tun, obwohl ich gerne würde, weil… Ein Grund findet sich immer – und manchmal sogar ein guter.

Yoga hilft dir, deine Grenzen zu überschreiten, hört man oft. Ist ja auch was dran. Yoga ist wie eine Reise in ein fremdes Land. Zuerst ist man scheu, hat vielleicht Angst, weil alles unbekannt ist, die ersten Schritte sind zaghaft, dann, je länger oder öfter man sich in dem Land aufhält, wird alles vertrauter. Man lernt die Menschen kennen und ihre Gepflogenheiten, erkundet immer weitere Regionen und immer mehr Grenzen lösen sich wie von Zauberhand auf. So auch beim Yoga: Unmöglich, denkt man zuerst bei einer schwierigen Asana. Aber dann, je länger und öfter man übt, verschiebt sich die Grenze von Unmöglich zu Möglich.

Aber heißt das jetzt, dass Yoga zum Ziel hat, dass wir alle und immer unsere Grenzen überschreiten müssen? Sind Grenzen etwas Schlechtes? Und wozu sind Grenzen überhaupt da? Etwa zum permanenten Überschreiten? Eine Grenze dient mir doch erst einmal dazu, mich selbst wahrzunehmen. Beim Üben: An irgendeinem Punkt in der Vorwärtsbeuge geht es nicht weiter. Ich kann diesen Punkt genau spüren, wenn ich achtsam bin. Und dann kann ich daran arbeiten, mit Achsamkeit, zum Beipiel flexibler zu werden. Grenzen wollen erkundet werden: Warum ist diese Grenze jetzt da? Ist sie körperlich, ist sie im Geist oder ist sie emotional? Jeder hat andere körperliche Voraussetzungen und jeder hat andere Erfahrungen im Leben gemacht, dadurch hat auch jeder andere natürliche Grenzen. Viele Grenzen sind selbst gesetzt ­- aber sie sind nicht ohne Grund da.


Grenzen überschreiten: das hört sich toll und erstrebenswert an. Aber erreicht man nicht vielmehr, wenn man die Gründe der eigenen Grenzen erforscht und die Grenzen dann langsam erweitert? Das hat eine ganz andere Qualität und die beginnt hier: mit dem Annehmen und Wahrnehmen der eigenen Grenzen.

Neulich habe ich einen Post gesehen von einer Frau, die sich nicht sicher war, ob sie zur Yogastunde gehen sollte. Sie fühle sich einfach nicht danach. Es kamen viele Antworten, so unterschiedlich, wie die Menschen und wie sie mit ihren Grenzen umgehen. Geh trotzdem, das ist nur der innere Schweinehund. Danach geht es dir besser. So lautete die eine Seite. Hör auf deinen Körper, er will dir etwas mitteilen. Tu wonach du dich fühlst, lautete die andere Seite. Was nun? Wie geht ihr mit euren Grenzen um? Wie findet man heraus, ob es nur eine innere Blockade ist, die man leicht abschütteln kann oder ob die innere Grenze gerade genau richtig ist? Das ist ja das Schwierige: Grenzen überschreiten kann man eben nur, wenn man Grenzen überschreitet. Deswegen ist es doch besonders wichtig, die Grenzen erst einmal wahzunehmen, zu erforschen und dann achtsam Schritt für Schritt zu erweitern. Bei einer gewaltsamen Grenzüberschreitung verletze ich sonst nur mich oder andere.

Ein befreundetes Acroyoga-Paar hat mir das neulich wunderschön gezeigt. Es ging um eine Verletzung, die sie hatte und darum, wie beide damit umgegangen sind. Sie beide haben die Grenze angenommen, die plötzlich da war. Sie mussten ihr ganzes Training umstellen, quasi von Null anfangen. Viele Tränen, viel Frustration, Ziele, die gerade noch ganz nahe waren, sind plötzlich weit weg. Hätte sie ihre Grenze nicht angenommen, hättte sie sich vielleicht noch schlimmer verletzt. Hätte er die Grenze nicht angenommen, hätte er sich vielleicht eine andere Trainingspartnerin gesucht. Stattdessen haben sie gemeinsam neue Wege gefunden, wahrgenommen, wie die Situation jetzt ist und langsam die Grenzen wieder erweitert. Beide haben dadurch viel mehr gelernt, als sie ohne diese Grenzerfahrung gelernt hätten. Heute sind sie dadurch als Paar und Acro-Partner gemeinsam stärker und noch viel mehr zusammengewachsen als zuvor.

Auf der anderen Seite gibt es auch Menschen, die scheinbar keinerlei Grenzen wahrnehmen, weder die eigenen noch die anderer, und die deswegen auch ständig die eigenen Grenzen und die anderer überschreiten. Was steckt hinter diesem Streben nach Grenzenlosigkeit? Letztendlich ist das doch der Wunsch nach Verschmelzung, nach der Einheit. Im Yoga das große Ziel: Samadhi.


Das Skurrile mit den Grenzen: Dieser Einheit kommt man irgendwie nur näher, wenn man die eigenen Grenzen erst einmal annimmt – und dann erst ausdehnt. Ich stelle mir das gerade wie eine kleine Blase in einer großen Blase vor. Wer die Begrenzung seiner kleinen Blase nicht wahrnimmt, stößt vielleicht immer wieder kurz in die große Blase vor. Und hat dort vielleicht auch kurz das Gefühl von Einheit und Grenzenlosigkeit. Es ist aber nur ein kurzes Herausschießen aus der eigenen Blase, wie ein Pfeil –  eine gewaltsame Grenzüberschreitung. Und die große Blase drängt diesen Eindringling immer wieder zurück in seine begrenzte Blase. Weil diese Grenzüberschreitung nicht als Ganzes passiert ist, sondern nur aus einem Punkt heraus. Wenn man allerdings den Rand seiner kleinen Blase wahrnimmt, ihre Begrenzung, die Gründe der Grenzen erforscht und langsam ausdehnt, dann wird die kleine Blase in der großen Blase immer größer. Und irgendwann wird die kleine Blase zu der großen Blase. Das ist Verschmelzung, Einheit, weil sich das Selbst als Ganzes erweitert, die Grenzen ausgedehnt, nicht überschritten werden.

So wie das Acro-Paar, das sich plötzlich in einer kleineren Blase als zuvor wiedergefunden hat. Aber anstatt dass einer ausgebrochen ist, haben sie sich gemeinsam wieder ausgedehnt und sind dadurch eine viel stärkere Einheit geworden. Eine Grenzerweiterung aus der Tiefe heraus.
Oder wie auf Reisen: Da gibt’s doch das Klischee vom typischen englischen Urlauber. Und den gibt es  wirklich. Er kommt in ein fremdes Land, poltert herum, grölt nach einigen Bier in englischer Sprache die Einheimischen an und erwartet, dass jeder ihn versteht, hat keinerlei Respekt vor den Sitten der Einwohner, besetzt mit seinem Handtuch die Liegen am Pool … Er ist zwar in dem fremden Land gewesen und glaubt vielleicht auch, dass er dieses jetzt kennt, dabei war er eigentlich gar nicht da. Er ist mal kurz wie ein Pfeil aus seiner Blase geschossen –  auch eine Art gewaltsamer Grenzüberschreitung.

Und davon gibt es viele jeden Tag, das muss nicht immer offensichtlich sein. Wenn andere unsere Grenzen überschreiten, kann das sehr verletzend sein, genauso wie wenn ich meine eigenen Grenzen überschreite. Sei es beim Yoga, beim Sport, bei anderen körperlichen Herausforderungen, im Zwischenmenschlichen, in der Beziehung, auf Reisen oder einfach nur in einem Gespräch mit einem anderen: Eine Grenzüberschreitung, ohne zuvor die Grenze bewusst wahrgenommen und angenommen zu haben, ist eigentlich immer ein gewaltsamer Akt. Zumindest die meisten Menschen tun das aber nicht aus Bösartigeit oder wissentlich, sonden weil sie die eigenen Grenzen und die der anderen einfach nicht wahrnehmen.

Wie will ich sein in meinem eigenen Leben, mir selbst und den anderen gegenüber? Wie ein Engländer auf Urlaub? Welche Grenzen hast du und warum? Überschreitest du die Grenzen anderer – und warum? Wie fühlt es sich an, wenn du deine Grenzen überschreitest? Schießt du Pfeile hinaus und landest immer wieder in deiner kleinen Blase oder erweiterst du dich langsam aber stetig?

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