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Warum Probleme weggrinsen nichts bringt und Yogis auch weinen, schreien und fluchen dürfen

„Yogas citta vritti nirodhah“ – Yoga, Geist, Wellen, Ruhe.

Yoga ist, wenn die Bewegungen des Geistes zur Ruhe kommen. Nur vier kleine Worte, mit denen Patanjali schon im zweiten Vers des Yogasutra beschreibt, was Yoga eigentlich ist. Und doch: vier so große Worte, die das ganze Universum der menschlichen Psyche in sich bergen. Was ist eigentlich dieser Geist? Wie funktioniert er? Und wie kann er zur Ruhe kommen? Das alles wird wunderbar in der Yogaphilosophie erklärt. Aber was, wenn der Geist einfach nicht zur Ruhe kommen will? Warum ein Yogi auch weinen, schreien und fluchen darf…

Ich liebe die Yogaphilosophie: In der Theorie ist alles so simpel. Unser Geist ist ständig in Aktion, wir denken, fühlen, haben Bedürfnisse, Wünsche, haben Begierden oder lehnen Dinge ab. Warum wir mal so und mal so denken, mal dieses und mal jenes wollen, liegt in der Tiefe des Geistes. Es sind unsere Erinnerungen und Erfahrungen, Muster und Konditionierungen, Erkenntnisse oder auch irrtümliche Erkenntnisse, die wir gemacht haben, die den ständig umherschweifenden Geist antreiben. Der Geist bewegt sich unablässig, oder besser: er wird bewegt. Das Alltagsbewusstsein ist voll im Griff des Egos: Wir alle streben nach den Dingen, die wir für gut (für uns) halten. Manche streben nach Geld, Prestige, Anerkennung, Karriere, andere vielleicht nach Gemeinschaft, Familie, Liebe. Aber egal, wonach es uns verlangt: Letztendlich ist es immer das Ego, das diese Wünsche antreibt, denn das Alltagsbewusstsein ist untrennbar mit dem Ego verbunden. Ob wir es wollen oder nicht, ob wir es erkennen oder nicht: Was sich in uns den ganzen Tag lang abspielt, alle Gedanken und Gefühle werden vom Ego kreiert. Meist identifizieren wir uns auch noch mit dem Ego und glauben so fälschlicherweise, dass wir selbstbestimmt denken, handeln und fühlen.   

Was, wenn der Geist nicht zur Ruhe kommen will?

Hier kommt Yoga ins Spiel: Yoga soll uns helfen, uns dieser Bewegungen des Geistes bewusst zu werden. Patanjali spricht von der Bindung an die Geistesbewegung, die Yoga auflösen soll. Und das ist tatsächlich gar kein Hexenwerk. Jeder, der meditiert, kennt diesen Zustand. Vielleicht am Anfang nur ein paar Sekunden, dann mal etwas länger, ein paar Minuten und irgendwann vielleicht für die Dauer einer ganzen Yogapraxis: Meditation in Bewegung. Für mich fühlt sich dieser Moment an wie ein Nachhausekommen. Alles andere fällt ab und da ist nur noch diese tiefe Geborgenheit, dieses Spüren, dass da noch so viel mehr ist, als der ganze Egokram. Es gibt viele blumige, schöne und auch kitschige Beschreibungen dafür. Gerade erst hab ich auf Facebook wieder einen dieser Sprüche gelesen: Yoga ist die Reise des Selbst, durch dich selbst, zu dir selbst. In der Yogaphilosophie spricht man von svarupa, der Wesensidentität, dem wahren Selbst. Mit gefällt der Begriff des wahren Selbst, weil er deutlich macht, dass es neben dem, was wir gemeinhin als unser Ich bezeichnen, nämlich dem ganzen getriebenen Egozeug, noch etwas viel Tieferes gibt, das von alldem unberührt ist und unser wahres Wesen ausmacht. Kaivalya – im Yoga die „Freiheit“ – ist dann da, wenn ich unterscheiden kann zwischen dem Ego und dem wahren Selbst und wenn sich die Bindung an die Bewegungen des Geistes auflöst. 

Soweit die Theorie. Und das, was wir hautnah beim Yoga praktizieren oder Meditieren selbst erleben können. Aber irgendwann ist auch die schönste Yogastunde, die friedvollste Meditation zu Ende. Und dann bricht der Alltag wieder ein. Ein bisschen können wir noch rüberretten von diesem Gefühl, in unserem wahren Selbst zu ruhen. Aber der Geist ist wie ein wildes Pferd, das jetzt schon so lange gezügelt wurde und nun versucht nach allen Seiten auszubrechen. Egogetriebene Gedanken und Gefühle können einen mit so einer Macht überrennen, dass man sich kaum dagegen wehren kann – selbst wenn man die Unterscheidung von Ego und wahrem Selbst in der Meditation schon erlebt hat. Man kann halt nicht den ganzen Tag meditieren. 

Yoga ist ein kräftiger aber auch ein langsamer Weg. Es nutzt nichts, irgendetwas mit dem Verstand zu begreifen, so schön und logisch die Yogaphilosophie auch klingt. Man kann es nur erleben – und das Erlebte Schritt für Schritt, eben sehr langsam, über Jahre hinweg in den Alltag hinübertragen. Dann nimmt vielleicht irgendwann auch diese Bindung an die Bewegungen des Geistes ab. Aber was tue ich jetzt, in diesem konkreten Moment, wo die Gefühle und Gedanken wieder mit voller Wucht zurück sind und das „Yogas citta vritti norodhah“ meilenweit entfernt scheint? Was tut ihr in solchen Momenten?

Ich glaube, eine Sache ist da ganz wichtig: Die Bindung an die Gedanken und Gefühle aufzulösen, heißt nicht, keine Gefühle oder gar Gedanken mehr zu haben. Manche Menschen scheinen Yoga oder Spiritualität allgemein damit zu verwechseln, Gefühle abzustellen oder zumindest so zu tun, als hätten sie sie nicht. Ganz nach dem Motto: „Solche niederen egogetriebenen Gefühle tangieren mich doch nicht!“ Ein Yogi weint nicht, schreit nicht, darf nicht vor Wut platzen oder seiner Traurigkeit freien Lauf lassen? So ein Schwachsinn! Jedes Gefühl hat seine Berechtigung, egal, ob die Angst aus alten Mustern stammt, die man längst hätte loslassen können oder die Traurigkeit nur daher rührt, dass das Ego verletzt wurde. Nur indem ich diese Gefühle annehme und im Herzen genau hinspüre, woher sie kommen, kann ich unabhängiger von ihnen werden. Jeder kennt das: Wenn man vor der Angst davonläuft, wird sie immer größer. Der einzige Weg, eine Beziehung zu sich selbst und damit auch zu anderen aufzubauen, ist es, seine Gefühle zuzulassen. Nur so kann ich sie im Sinne des Yoga „erforschen“ und allmählich freier und ungebundener werden. 

Authentisch sein anstatt Grenzen aufzubauen

Das Ego ist ja nichts Schlechtes. Es  bestimmt zwar meist unseren Geist, gleichzeitig macht es uns auch zu dem Individuum, das wir in diesem Leben sind. Das Ego und das wahre Selbst sind keine Feinde, sie gehen Hand in Hand. Deswegen gilt es nicht, das Ego zu „überwinden“, wie es oft so schön heißt. Im Gegenteil: Wenn ich in Wahrheit wütend oder traurig bin, aber alle Probleme mit einem Grinsen im Gesicht weglächele, bringt mich das dem Ziel nicht näher. Es baut Grenzen auf: zu mir selbst und zu meinen Mitmenschen, denn ich bin nicht mehr authentisch. Authentisch sein, heißt hingegen anzunehmen, was jetzt gerade ist. 

Es gibt eine sehr schöne Meditation dafür: Lenke deine Aufmerksamkeit auf deine Gefühle, auf das, was dich gerade belastet. Was auch immer es ist, Schmerz, Trauer, Wut, Angst: Nimm es in dein Herz auf, ohne zu beurteilen oder zu versuchen es zu überwinden. Wenn du weinen willst, weine, wenn du schreien willst, schreie. Aber spüre immer auf dein Herz und versuche die Wahrheit hinter deinen Gefühlen zu erkennen. Oft ist es schon diese Aufmerksamkeit, die hilft, dass sie sich allmählich verwandeln. 

Der Weg, sich bewusst zu machen, wie der Geist funktioniert, führt nicht um die Gefühle herum. Er führt durch sie hindurch. So können wir irgendwann klarere Gedanken fassen und klarere Gefühle haben. Sie sind immer da, aber wir werden nicht mehr so von ihnen hin und her gerissen. Das ist für mich der Unterschied zwischen Gleichmut und (gespielter) Gleichgültigkeit, der Unterschied zwischen Authentizität und gespielter Spiritualität. 

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